Mein Leben begann – zumindest gefühlt – ziemlich spät. Als Kind war ich ein Rebell. Einer von der Sorte, die es anderen nicht leicht machen. Wenn alle nach vorne liefen, konnte man sicher sein, dass ich mich aus Prinzip umdrehte und in die andere Richtung ging. Nicht, weil es klüger war, sondern weil es sich richtig anfühlte. Einfach dagegen. Nicht immer machte ich mir damit das Leben leichter, aber so war ich eben.
Sport spielte in meinem Leben lange keine Rolle. Im Sportunterricht war ich meistens die Person, die den Schmuck bewachte oder einfach nur Quatsch im Kopf hatte. Ich habe vieles ausprobiert, aber irgendwo war immer dieses Gefühl: Ich passe hier nicht rein. Teamplayer war ich nie. Eher Einzelgänger mit eigenem Kopf.
Mit den Jahren verändert sich vieles. Man wird älter, vernünftiger – und zum Glück auch ein ganzes Stück normaler. Spätestens als mir klar wurde, dass ich eine Vorbildfunktion für meine Kinder habe, wusste ich: Ich muss etwas ändern. Nicht alles an mir, aber genug, um Verantwortung zu übernehmen.
Seit vielen Jahren bin ich selbstständig, und das auch erfolgreich. In unserer kleinen Tee- und Gewürzmanufaktur waren 60-Stunden-Wochen völlig normal. Viele Tage, vor allem viele Nächte, habe ich dort verbracht. Arbeit war nicht nur Pflicht, sie war Identität. Parallel dazu war es mir immer wichtig, mein Wissen weiterzugeben. Erst an Erwachsene bei kleinen Kräuterwanderungen, später auch an Kinder und in Schulen. Dieser Teil meines Lebens ist ein Pfeiler, der mich bis heute erdet. Kinder sind ehrlich. Ihre Geschichten zeigen, wie schwer das Leben manchmal ist. Genau deshalb liebe und schätze ich diese Arbeit so sehr. Und manchmal stehen sie vor mir – genauso wild, genauso quer, wie ich früher war. Dann muss ich schmunzeln. Einer ist eben immer dabei.
Dann kam Tag X
Dann kam Tag X. Der Tag, an dem ich dachte, ich hätte einen Schlaganfall oder etwas anderes ganz Schlimmes. Von heute auf morgen sah ich auf meinem linken Auge nichts mehr. Ein längerer Aufenthalt im Krankenhaus brachte zunächst keine Antworten. Erst nach der Verlegung auf die Neurologie, nach unzähligen Tests, Proben und Untersuchungen, wurde das Bild klar.
Multiple Sklerose.
Ein Schock? Nicht wirklich. Die größere Angst war, dass es Krebs sein könnte. Diese Krankheit hat mir bereits alles genommen. 2019 verlor ich meinen Sohn, gerade einmal acht Jahre alt, an Krebs. Drei Jahre haben wir gekämpft. Wir fanden keinen Spender. Und am Ende verloren wir ihn trotzdem. Wer so etwas erlebt hat, hört dieses Wort anders. Leiser vielleicht. Aber tiefer.
Und plötzlich stand ich da. Ein bisschen lost. Und doch wach. Stundenlange Gespräche mit der Familie folgten. Schnell war klar: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Ein neues Leben musste her. Vor allem weniger Arbeit. Selbstständig sein – auf einmal ein Risiko? Oder doch machbar? Viele Fragen, viele Sorgen um die Zukunft. Wahrscheinlich genau die Gedanken, die jeder in dieser Situation hat.
Die erste Veränderung kam schneller als erwartet. Wenige Monate zuvor hatte ich mit HIIT-Training begonnen. Maximale Leistung, laute Musik, schnelle Intervalle. Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Ich konnte diesen Mix nicht mehr ertragen. Der Kurs war vorbei. Nach einer Einheit stand eine damals noch Bekannte vor mir. Ich sah sie an und sagte nur: „Geht nicht mehr.
Was jetzt?“ Sie schaute mich an und sagte: „Dann gehen wir laufen.“
Heute sind wir Laufbuddys. Und Freunde. Und ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, dass mir Laufen Spaß macht. Wir laufen im Quasseltempo, waren schon bei unseren ersten Wettkämpfen dabei, und irgendwo zwischen diesen Kilometern bin ich wieder bei mir angekommen. Im Reinen mit mir selbst. Es klingt merkwürdig, aber es ist wahr.
Das Laufen gibt mir Kraft. Es hilft mir, runterzukommen, Abstand vom Alltag zu gewinnen. Es erdet mich. Auch wenn sich manche Bekannte fragen, ob ich jetzt komplett den Verstand verloren habe und mich kopfschüttelnd anschauen – es ist mir egal.
Mein Weg. Meine Regeln.
Und ja, eine kleine Spur Rebell ist wohl immer noch da.